Das Projekt Inklusion Hören am Gisela-Gymnasium
by Eva Straub-Kölcze Gisela-Gymnasium, München/Germany on 2018-11-24
Die Verfasserin dieses Artikels ist Lehrerin am Gisela-Gymnasium München und dort eine der beiden - selbst hörgeschädigten - Beauftragten für die Inklusion der hörgeschädigten Schüler*innen. Die Zeichnung stammt von Emil Bohnhoff.
„Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche.“
Das Projekt Inklusion Hören am Gisela-Gymnasium München
Die Herausforderung einer Hörschädigung
Jeder hörgeschädigte Mensch erfährt Grenzen, die ihn seit Geburt an oder auch zunehmend im Laufe seines Lebens begleiten. Die Arten und Auswirkungen von Hörschädigung sind sehr verschiedenartig, je nachdem, welcher Teil des menschlichen Hörorgans (äußeres Ohr, Mittelohr, Innenohr, Gehirn) betroffen und wie groß das Ausmaß der Schädigung (von leicht- bzw. mittelgradig bis zu hochgradig bzw. gehörlos) ist. In jedem Fall stellt eine Hörbeeinträchtigung für den jeweiligen Menschen eine lebenslange Herausforderung dar, weil das Hören dauerhaft anders, eingeschränkt und z.T. nur mit einer Hörhilfe möglich ist. Dazu kommt, dass die Hörbehinderung sowohl den Betroffenen als auch die guthörende Umwelt vor große Herausforderungen stellt. Nachdem meine eigene Hörbehinderung nun schon gut 20 Jahre Teil meines Lebens ist, wage ich zu behaupten: Die Herausforderungen im Umgang mit Hörbehinderung werden von allen Beteiligten notorisch unterschätzt.
Ein Vakuum des Nichtwissens
Die Hörbehinderung wird auch die „unsichtbare Behinderung“ genannt, da sie rein visuell zunächst nicht wahrnehmbar ist bzw. problemlos unsichtbar gemacht werden kann (lange Haare für ungeliebte Hörgeräte, kompletter Verzicht auf Hörhilfen, Lächeln statt Verstehen usw.). Dadurch entsteht bei der Umwelt zunächst ein „Vakuum des Nichtwissens“, das, wenn es nicht gezielt immer wieder gefüllt wird, Missverständnissen Vorschub leistet.
Eine Abiturientin schreibt auf die Frage „Was `stinkt` dir als hörgeschädigter Mensch am meisten?“ zunächst : „Lauter Fragen zu meiner Schwerhörigkeit, die sich seit Jahren wiederholen, z.B. `Welchen Grad der Schwerhörigkeit hast du?`, `Wie willst du behandelt werden?`, `Hörst du auch ohne Hörgeräte?`, `Schläfst du mit Hörgeräten?`…“ Mit anderen Worten: Die Aufklärung der gut hörenden Welt über Hörbehinderung ist mühsam und ein nahezu unendliches Unterfangen. Auch wenn durch das Stellen von Fragen scheinbar beste Voraussetzungen dafür geschaffen sind, dass sich die zwei Welten begegnen, muss die Kommunikation nicht gelingen. Die Hörgeschädigte nerven die sich über Jahre wiederholenden Fragen. Weiter unten nennt die Schülerin als weiteren problematischen Punkt: „Wenn Menschen intolerant sind und nicht akzeptieren wollen, dass sie sich zu mir wenden sollen, wenn sie mit mir sprechen.“ Wissen über Hörbehinderung führt also nicht unbedingt weiter. Möglicherweise kommen die zu fühlenden Bedürfnisse der Beteiligten gar nicht zur Sprache. Das Reden über Hörbehinderung bietet zwar optimale Voraussetzung dafür, eine angemessene Haltung zu entwickeln. Aber es besteht ein Unterschied bezüglich des Bildes, das man sich von außen von einer Hörschädigung macht und der Innenansicht dieser Behinderung. Dazwischen liegen Welten. Hörbehindert sein heißt Anderssein.
Inklusion und Schule
In unserer Zeit steht der Begriff „Inklusion“ für die konsequente Wertschätzung der menschlichen Andersartigkeit und Verschiedenartigkeit. Eine (Hör-)Behinderung ist so gesehen ein Testfall für diese Haltung, die mit konkreten Inhalten gefüllt werden muss. Hier hat die Schulzeit eine wichtige Schlüsselfunktion als Brücke zum Erwachsenenleben, denn in dieser sensiblen Lebensphase sollen sich hörgeschädigte Kinder und Jugendliche tragfähige Strategien für den Umgang mit „ihrer“ Hörbehinderung aneignen. Kann das gelingen?
Am Beispiel des Gisela-Gymnasiums wird anschaulich, dass es möglich ist, auch stark hörbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche in das gymnasiale Bildungsgeschehen einzuladen. Schon seit 1984 besteht am Gisela-Gymnasium München das Projekt der Integration bzw. Inklusion hörgeschädigter Schülerinnen und Schüler in speziellen Klassen. Seitdem Schuljahr 2016/17 besteht das Angebot nicht nur für Übergangsklassen zur gymnasialen Oberstufe, sondern bereits für die Unterstufe. Am ersten und bislang einzigen Gymnasium Bayerns mit dem Inklusionsschwerpunkt „Hören“ existieren besondere, man möchte fast sagen „exklusive“ Bedingungen auch für stark hörgeschädigte Kinder und Jugendliche:
· Ausstattung der Unterrichtsräume für Hörgeschädigte mit Höranlage und ablesefreundlicher Sitzordnung sowie passender Raumakustik
· Kontakt zu zwei hörgeschädigten Gymnasial- bzw. Schwerhörigenpädagogen vor Ort (OStR Max Dimpflmeier und OStRin Eva Straub-Kölcze)
· regelmäßige Fortbildungen und Sensibilisierung des guthörenden Gesamtkollegiums mit internen und externen Referent/innen
· Förderstunden und Spezialwahlunterricht für Hörgeschädigte (z.B. Musikunterricht für Hörgeschädigte)
· Schüler-für-Schüler-Projekte zur Aufklärung über Hörschädigung in allen Jahrgangsstufen
· Angebot von Coaching- und Beratungsgespräche für hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern von internen und externen Fachkräften
· Kontakt zu externen Beratungspartnern im Bereich Inklusion „Hören“ (u.a. EBZ München)
· Unterstützung allgemeiner Veranstaltungen des Schullebens mit Gebärdensprachen- und Schriftdolmetschern
...
Die Liste der Maßnahmen wird beständig erweitert. Und sie zeigt: Die vielfältigen Auswirkungen von Hörbehinderung fordern schon im schulischen Bereich höchst differenzierte Reaktionen. Man könnte auch sagen: Das macht Arbeit.
Inklusion will im Kern, dass wir uns gegenseitig in die Freiheit des Andersseins entlassen
In Anspielung auf den Titel des Artikels möchte ich den Umgang mit Hörbehinderung aber nicht nur als „Arbeit“ bezeichnen. Viel lieber wähle ich „ein nicht enden wollendes Abenteuer“ – sozial, emotional und vor allem in Bezug auf die Bewusstheit der Lebensführung. Wenn die Begegnung zwischen den Welten gelingt, zeigen sich ungeahnte Ressourcen. Eine humorvolle Bemerkung im Klassen- oder Lehrerzimmer, etwas Selbstironie im Familien- und Freundeskreis, sommerlicher Smalltalk in Gebärdensprache auf dem Schulfest… Es gibt so viele Möglichkeiten, das Anderssein entspannt zu leben. Mit einer gehörigen Portion Achtsamkeit kann das gelingen, was Inklusion im Kern will: Uns gegenseitig in die Freiheit des Andersseins entlassen. Noch einmal soll die hörgeschädigte Schülerin zu Wort kommen: „Wir sind ganz normale Leute und wenn wir etwas nicht verstehen, sagen wir Bescheid.“